9. Februar 2023, 15:04 Uhr | Lesezeit: 4 Minuten
Seit einiger Zeit gibt es mit „Cluttercore“ einen neuen Hype auf TikTok. Junge Menschen trotzen dem vorherrschenden cleanen, minimalistischen Chic in Wohnungen und demonstrieren stattdessen ihre Sammelleidenschaft. Fans nennen es Kunst, Kritiker sprechen von Chaos. myHOMEBOOK-Autorin und Interior Designerin Odett Schumann beleuchtet den Trend.
Aktuell sorgt ein vermeintlich neuer Einrichtungstrend auf TikTok für Furore: Mit fast 88 Millionen Aufrufen trendet „Cluttercore“. Fast scheint es so, als wäre es eine bewusste Provokation gegenüber der weltweit beliebten Minimalismusbewegung und ein Affront gegenüber der Aufräumexpertin Marie Kondo. Doch was macht Cluttercore genau aus? Wie lässt sich der Trend zu Hause umsetzen? Und warum ist er bei jungen Menschen derzeit so beliebt?
Überangebot statt Überforderung
Entgegen dem Credo minimalistischer Einrichtungstendenzen sammeln und stylen jüngere Generationen aktuell im großen Stil allerhand Dinge. Zur Schau stellen sie das Ganze auf Social Media, allen voran TikTok, unter dem Hashtag „Cluttercore“. Aus dem Englischen übersetzt, bedeutet dies „mit Kleinkram überladen“ oder eben schlichtweg „unordentlich“.
Doch von Unordnung wollen die Creator und deren Fans nichts wissen. Vielmehr verbinden sie ihre Werke mit einem Ästhetikgedanken. Um ein erkennbares System bemüht werden Accessoires in großen Mengen und in den verschiedensten Farben, Formen oder Mustern arrangiert. Skeptiker nennen es Chaos, Anhänger des Trends betrachten es vielmehr als organisiertes Chaos. Bewusst wird das eigene Überangebot an Kram gebändigt, so geschmackvoll wie möglich in Szene gesetzt und anschließend auf Social Media gepostet. Das Interesse an reduziertem Einrichten, wie es ältere Generationen vor allem beim skandinavischen Einrichten schätzen, scheint aktuell gänzlich verloren.
Das Kabinett der eigenen Künste
Der Fairness halber sei allerdings erwähnt, dass es sich bei Cluttercore nicht nur um eine bloße Ansammlung von Dingen handelt. Vielmehr konzentrieren sich Creator und Fans auf persönliche Lieblingsgegenstände, geliebte Erinnerungsstücke oder eben Dinge mit besonders emotionalem Wert.
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Einige von ihnen sammeln etwa die verschiedensten Pflanzen und kombinieren diese mit Bildern an der Wand, bei anderen wiederum droht das Bücherregal mit allerlei Kleinkram wie Schlüsselanhängern, Kuscheltierchen und Souveniers regelrecht zu platzen. Und fast immer scheint bei der Inszenierung nichts dem Zufall überlassen: Ein üppiges Portfolio aus Plattencovern sortiert sich fein säuberlich – ähnlich wie in einer Galerie – die komplette Wandfläche entlang. Auf Perfektion wird dabei weniger Wert gelegt, auf Ordnung hingegen schon. Und so mutet die persönlich kuratierte Ausstellung fast wie eine Art Kabinett der eigenen Künste an.
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Auseinandersetzung mit der aktuellen Weltlage
Die Freude an Altem ist bei jüngeren Menschen wie den Millennials und jetzt eben auch der „Gen Z“ schon seit Jahren zu beobachten. Das Outfit stammt nicht selten aus dem Vintage Store, die Einrichtung hingegen vom Flohmarkt oder aus Omas Dachboden. Dieses stete Hinterfragen des eigenen Konsums, aber auch das geschärfte Bewusstsein für mehr Nachhaltigkeit, zeigt sich jetzt auch beim Cluttercore-Trend.
Bedient wird sich nicht etwa an neuen Dingen, sondern aus dem Antiqitätengeschäft, dem Trödelmarkt oder auf Kleinanzeigenportalen. Auch die aktuelle Weltlage mit Pandemien, Kriegen und Klimakrise spielt enorm in die Lebensrealität der meist noch jungen TikTok-Anhängerschaft hinein. Die Idee: Die Sorgen im Außen mit einem heimeligen Gefühl, durch geliebte Dinge innerhalb den eigenen vier Wände, kompensieren.
myHOMEBOOK-Autorin und Interior Designerin Odett Schumann meint:
Mit Sicherheit können wir uns darauf einigen, dass nahezu jeder Trend auch so seinen Gegentrend heraufbeschwört. Die Frage ist dann nur: Welche Bewegung hat am Ende den längeren Atem? Im Vergleich: Der Minimalismustrend hält sich mittlerweile schon seit einigen Jahren im Trendgeschehen. Nicht ohne Grund! Zweifelsohne passt er ins gegenwärtige Weltgeschehen: Verzichten im Sinne für die Umwelt, Verzichten in Zeiten des Hinterfragens des eigenen Konsumverhaltens, Verzichten im Sinne des eigenen Geldbeutels während einer andauernden Inflationsphase.
Über den Cluttercore heißt es zwar, dass seine Anhängerschaft sich überwiegend an altem, gebrauchten Kram bedient, doch sicherlich bleibt bei der einen oder anderen Sammelleidenschaft die eine oder andere gelegentliche Neuanschaffung nicht aus. Noch schwerer wiegt für mich, als Fangirl des Minimalismusprinzips, allerdings der Aspekt der vollkommenen Reizüberflutung. Während bereits Social Media auf sämtlichen Kanälen tagtäglich mental auf uns einprasselt und auch die Krisen der Welt permanent ein herausforderndes Bild zeichnen, kann solch eine visuelle Überfrachtung innerhalb der eigenen vier Wände, die eigentlich als Ort der Erholung und des Rückzugs dienen, doch nicht wirklich wohltuend ergo gesund für das individuelle seelische Befinden sein, oder?