13. Oktober 2021, 13:56 Uhr | Lesezeit: 10 Minuten
Sich Lebensmittel in wenigen Minuten nach Hause liefern zu lassen, liegt, vor allem in den Großstädten, enorm im Trend. Die Kuriere der Lieferdienste prägen mittlerweile das Stadtbild, immer mehr neue Start-ups in diesem Bereich werden gegründet. Auf den ersten Blick scheint das System recht nachhaltig zu sein – doch wie sieht es dahinter wirklich aus? myHOMEBOOK hat sich diese Frage gestellt und bei Experten nachgefragt.
Lieferdienste bringen Lebensmittel direkt mit Fahrrädern an die Haustür, es fällt dabei kaum Verpackung an, in der Regel nur eine oder mehrere Papiertüten. Unternehmen wie „Gorillas“ oder „Flink“ werben damit, den Einkauf innerhalb von wenigen Minuten zu liefern, was den Verbraucher freut, da er sich den Weg zum nächsten Supermarkt sparen kann. Doch sind Lebensmittel-Lieferdienste auch nachhaltig, wie sie vorgeben? Welche Lieferketten und versteckten CO2-Emissionen stecken dahinter – und wie reagieren die Dienste selbst auf Nachfragen rund um die Nachhaltigkeit? myHOMEBOOK hat dazu umfassend recherchiert – mit interessanten Ergebnissen.
Wie wichtig ist Nachhaltigkeit für Lebensmittel-Lieferdienste?
Das Liefer-Start-up Gorillas ist mittlerweile in 20 deutschen Städten (Stand Juni 2021) – darunter Berlin, Hamburg, Köln, München oder Frankfurt mit einer Vielzahl an kleinen Verteilerzentren vertreten. Den angeblichen Vorteil dieses Konzepts beschreibt ein Sprecher als eine Zeitersparnis, die den Pkw-Verkehr in der Stadt reduziert und Lebensmittelverschwendung zu Hause und entlang der Lieferkette senken soll. Der Gedanke ist, dass Kunden nur die Produkte kaufen, die sie wirklich unmittelbar benötigen, was Abfall reduzieren soll. Waren, die kurz vor dem Ablaufdatum stehen, werden laut dem Lieferdienst an Annahmestellen für Lebensmittel weiterverteilt.
Auch beim Konkurrenz-Lieferdienst „Flink“ schreibt man sich das Thema Nachhaltigkeit auf die Fahne. „Aktuell fällt es uns noch sehr schwer, konkrete Antworten zu geben, da wir erst seit ein paar Monaten operativ aktiv sind“, heißt es dort. An erster Stelle stehe für Sicherheit der Mitarbeiter, aber Nachhaltigkeit ist „ein zentrales Gut beim Aufbau von Flink“.
Der Bringdienst möchte „mittelfristig bereits ein Einkaufserlebnis für Kunden bieten können, dass mindestens genauso nachhaltig wie das klassische Einkaufserlebnis ist.“ Eine wichtige Rolle spielen dabei „zentral verpackte Lebensmittel und die Lieferung per E-Bikes“. Bei Flink geht man im Gegensatz zu Gorillas also davon aus, dass es weniger nachhaltig ist, sich Lebensmittel liefern zu lassen, als im Supermarkt einzukaufen. Doch was sagen Experten dazu?
Wie nachhaltig ist es, Lebensmittel mit dem Fahrrad liefern zu lassen?
„Belastbare Zahlen dazu gibt es noch nicht“, erklärt Britta Schautz, Projektleitung Lebensmittel und Ernährung von der Verbraucherzentrale Berlin vorab. Für sie ist allerdings klar: „Einkaufen mit dem Auto verbraucht mehr CO₂ als mit dem Fahrrad – auch mit dem E-Bike.“ Das Problem sieht sie an anderer Stelle. „Die Bringdienste haben viele Verteilerstationen, und die sind relativ klein. Sie haben weniger Lagerkapazitäten als größere Supermärkte. Außerdem haben die kleineren Lager der Bringdienste auch eigene Kühlungen, das ist dann auf das einzelne Lebensmittel bezogen weniger effizient“, führt die Expertin aus. Zudem müssten Großhändler die Verteilerzentren bei hoher Nachfrage mehrmals pro Tag beliefern, im Gegensatz zu den Supermärkten, was mehr CO2-Ausstoß verursachen würde.
Wie nachhaltig sind Lieferungen per E-Bike?
Auch wenn der Einkauf per E-Bike an die eigene Haustür gelangt – auch ein Akku muss geladen werden und verbraucht Ressourcen. Ist es trotzdem die nachhaltigere Art des Transports? myHOMEBOOK hat beim Umweltbundesamt angefragt. Dr. Hyewon Seo erklärt, dass man hierfür die Umweltauswirkung vergleichen müsse – einerseits vom Weg zum Supermarkt, andererseits bei Lieferung per E-Bike. Leider fehlen auch hierzu genaue Daten, aber es gibt eine allgemeine Studie des Umweltbundesamtes zu den Umweltauswirkungen verschiedener Verkehrsmittel. „Demnach stößt ein E-Bike/Pedelec beispielsweise etwa zehnmal weniger Treibhausgasemissionen aus als ein Auto“, fasst Seo zusammen.
Angenommen, jeder Zweite fährt mit dem Auto zum Supermarkt, und die andere Hälfte fährt mit dem Fahrrad oder geht zu Fuß, würde der Lieferdienst per E-Bike laut Seo immer noch wesentlich besser abschneiden. „Wenn dabei noch mitberücksichtigt wird, dass der Lieferdienst in der Regel nicht die eine Fahrt, sondern mehrere Lieferungen zusammen bewerkstelligt, würde er noch besser dastehen“, erklärt die Expertin. Dass mehrere Lieferungen zusammengefasst werden, ist aber bei kurzen Lieferzeiten vermutlich eher eine Ausnahme.
Senken Fahrrad-Lieferdienste wirklich den Stadtverkehr?
Laut Aussage von Gorillas tragen Lieferdienste auch dazu bei, den Autoverkehr in den teils bereits überlasteten Innenstädten zu reduzieren. Um dies zu verifizieren, hat myHOMEBOOK bei der Berliner Senatsverwaltung für Umwelt, Verkehr und Klimaschutz nachgefragt. Für Pressesprecher Jan Thomsen steht fest: „Nur die bewusste Verlagerung von Lieferdiensten vom Auto aufs Fahrrad oder auf andere umweltfreundliche Verkehrsarten verringert den Autoverkehr in relevantem Umfang.“ Dies sei allerdings nicht der Fall.
Thomsen führt weiter aus: „Wenn Firmen sich neu im Kiez ansiedeln und mangels hinreichender Lagerflächen sehr häufig Warenlieferungen per Transporter oder per Lkw erhalten, reduziert dies zunächst nicht den Autoverkehr.“ Zudem erwähnt der Sprecher, dass im Fall von Berlin die Stadtteile bereits sehr gut mit Einzelhandelsangeboten versorgt seien. Vielmehr ersetzen die Fahrradkurier die Lieferwege, die zuvor zu Fuß, mit dem eigenen Fahrrad oder öffentlichen Verkehrsmitteln zurückgelegt wurden. „Wir gehen daher von keiner erheblichen Entlastungswirkung aus“, erklärt der Sprecher abschließend.
Inwiefern belasten die Fahrräder die Innenstädte?
Zudem verwies der Sprecher auf eine schriftliche Anfrage aus dem Abgeordnetenhaus namens „’Gorillas‘ & Co.: Privatisierung des Stadtraums durch hyperlokale Logistikzentren?“ vom August 2021 – die Antwort kam von der Senatsverwaltung für Umwelt, Verkehr und Klimaschutz. Eine Frage bezog sich auf die Tatsache, dass die „zu kleinen Geschäftsräume mehrfach am Tag mit 12-Tonnern im Wohngebiet beliefert werden“ würden. Dem Senat sei bekannt, „dass eine regelmäßige Belieferung der Micro-Fulfllment-Center mit größeren Fahrzeugen stattfindet“. Zudem erwarte der Senat, dass die Verkehrsregeln eingehalten werden.
Gorillas Technologies GmbH teilte darauf in der Anfrage an den Senat mit: „Gorillas ist darauf bedacht, dass durch den Betrieb unserer Lagerhäuser keine Belastungen für die allgemeine Verkehrssicherheit entstehen. (…) Wo möglich verwenden unsere Lieferanten kleinere LKWs und/oder liefern über unsere Höfe, um den Straßenverkehr nicht zu behindern.“
Auf die Frage, wie oft die Lagerhäuser von Gorillas nun tatsächlich beliefert werden würden, gab es keine eindeutige Antwort. Eine Sprecherin antwortete: „Aktuell implementieren wir Daten-Analyse-Tools, die uns ermöglichen, genau zu planen, welche Bestellungen am Ende des Tages am wenigsten Verschwendung erzeugen.“ Auch auf die Frage nach den Ladezyklen der E-Bikes konnte Gorillas aus Vertraulichkeits- und Wettbewerbsgründen keine Antwort liefern.
Werden durch Lieferdienste weniger Lebensmittel weggeworfen?
Gorillas arbeitet nach eigenen Angaben mit „Too Good To Go“ zusammen – einem Start-up, das Lebensmittel weiterverwertet, die ansonsten entsorgt werden würden. Eine Gorillas-Sprecherin erklärte, dass dadurch 250.000 Kilogramm CO₂ und 100.000 Tüten mit Lebensmittel eingespart beziehungsweise verwertet wurden. Eine Anfrage bei „Too Good To Go“ bestätigte dies.
Aber wie sieht es hier im Vergleich mit dem stationären Einzelhandel aus? Laut Hyewon Seo vom Umweltbundesamt verwies dabei auf das Thünen-Institut, das die Politik in sozioökonomische Fragen berät. Demnach sind 2019 im Lebensmitteleinzelhandel rund 500.000 Tonnen Lebensmittelabfälle entstanden. „Es ist aber leider nicht bekannt, wie viel davon abgelaufene Lebensmittel sind“, erklärt die Mitarbeiterin des Umweltbundesamtes. Allerdings werden rund 30 Prozent der dort entstehenden Lebensmittelabfälle gespendet oder weitergegeben.
Welche Rolle spielen dabei die Verpackungen?
Ein weiterer Faktor, wenn es um Nachhaltigkeit geht, sind die Verpackungen. „Die Lebensmittel kommen immer mit Verpackung daher, auch wenn es nur eine Papiertüte ist“, sagt Schautz von der Verbraucherzentrale. „Beim stationären Einkauf habe ich meinen Jutebeutel, den kann ich öfter verwenden.“ Auch fürs Recyclen werde Energie benötigt. „Das Beste wäre keine Verpackungen“, sagt die Lebensmittel-Expertin. Aber: „Lieferdienste für Lebensmittel sind auf jeden Fall nachhaltiger als Bringdienste für fertiges Essen, solange diese in Einwegverpackungen liefern.“
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Was bedeutet Kühlung und Lagerung für die CO2-Bilanz?
Auch für Lisa Frien-Kossolobow vom Umweltbundesamt kommt es auf den jeweiligen Einzelfall an. „Ein Produkt zu bestellen, kann ökologisch sinnvoller sein als mit dem Auto zu fahren.“ Die Expertin spricht bei den kleinen Verteilerstationen von „Micro-Hubs“, die in diesem Fall extra gekühlt werden müssen. „Je mehr gekühlte Lager-Orte, desto schlechter würde die Bilanz ausfallen“, meint sie. Zudem hat sie einige Fragen zu den Kühl-Micro-Hubs: „Wie ist das gebaut? Ist das gut gedämmt? Wie gut sind die Klimageräte?“ Aktuell gibt es auch hier keine allgemeingültigen Aussagen. Aber: „Dass sie mit dem Fahrrad liefern, ist ein Vorteil.“
Auf die Fragen der Expertin vom Umweltbundesamt zu den gekühlten Micro-Hubs bekam myHOMEBOOK keine Antwort von Gorillas. Allerdings ergab eine Anfrage bei REWE, wie Transport, Lagerung und Kühlung im Vergleich bei den Supermärkten ablaufen. Wie REWE-Sprecher Thomas Bonrath mitteilt, werden die Supermärkte werktäglich frisch beliefert. „Länger haltbare Lebensmittel haben eine geringere Taktung“, erklärt Bonrath. Zudem sei es der Supermarkt-Kette möglich, Lagerkapazitäten gering zu halten, unter anderem aufgrund von Automatisierung, zügiger Warenverräumung und einer durchdachten Logistik. „Insofern unterscheiden sich die Lagerfunktionen eines Supermarktes von denen von Bringdiensten“, fasst der Sprecher zusammen.
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Wie nachhaltig ist es, einzelne Lebensmittel zu bestellen?
Frien-Kossolobow verweist dabei auf eine Studie des Umweltbundesamtes, in der es um Online-Handel allgemein sowie konkret um Transport und Lagerung geht. Eine wichtige Erkenntnis: Besonders Lebensmittel werden online häufig in kleineren Mengen als im stationären Handel gekauft. „Das ist dann nicht sehr effizient“, meint Frien-Kossolobow – und spricht dabei von einer „Fragmentierung“.
Zu welchem Schluss kommt die Studie? „Die Kernaussage ist, dass der Onlinehandel oft effizienter sein kann“, erläutert die Expertin. Zum einen liegt es an der Lagerung, große Lager können effizienter betrieben werden als Ladengeschäfte. Andererseits liegt es am Transport, und zwar ob man selbst mit dem Auto fahre oder eine Lieferung mit vielen anderen Paketen bestellt. „Allerdings ist der Abfall von Versandverpackungen ein Problem beim Onlinehandel“, sagt Frien-Kossolobow. „Sofort-Lieferungen fallen aus dem effizienten System heraus und sind aus Umweltsicht zu vermeiden.“
Laut Frien-Kossolobow ist es ein wichtiges Ergebnis der Studie, „dass die Bilanz der Lieferung im gesamten nur einen kleinen Anteil hat“. Beim gesamten Lebensweg würden nur bis zu zehn Prozent auf die Distribution entfallen. „Für Lebensmittel würde das bedeuten, Fleisch und tierische Lebensmittel sind ein Umweltproblem – ob per Lastenrad geliefert oder im Laden gekauft.“
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Was raten die Experten in Bezug auf die Nachhaltigkeit?
Britta Schautz von der Verbraucherzentrale ist skeptisch, was die Zukunft angeht. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass sich die Vielzahl der Lieferdienste lange hält.“ Einerseits sind die bestellbaren Lebensmittel teilweise teurer, was sich vor allem bei größeren Mengen summiert. Manche Lebensmittel sind außerdem nicht immer verfügbar. „Verbraucher sind dann schnell genervt.“ Zudem sei auch die Zeitersparnis oft gar nicht so groß.
„Wir empfehlen, die eigenen Bedürfnisse zu reflektieren“, meint Frien-Kossolobow vom Umweltbundesamt. Auch wenn es ökologisch nicht unbedingt schlechter abschneidet, sollten Verbraucher hinterfragen, ob sie kleine Mengen an Lebensmitteln wirklich sofort brauchen. „Wenn ich auf dem Dorf wohne, ist das etwas anderes“, sagt sie, zudem es die Lebensmittel-Bringdienste in ländlichen Regionen gar nicht gibt. Aber in der Großstadt habe man meistens auch andere Möglichkeiten, bewusst und nachhaltig einzukaufen.
Quellen:
Gorillas
Flink
REWE
Too Good To Go
Umweltbundesamt: Die Ökologisierung des Onlinehandels
Umweltbundesamt: Umweltfreundlich mobil! Ein ökologischer Verkehrsartenvergleich für den Personen- und Güterverkehr in Deutschland
Verbraucherzentrale
Thünen-Institut: Monitoring der Lebensmittelabfälle im Groß- und Einzelhandel in Deutschland 2019
Senatsverwaltung für Umwelt, Verkehr und Klimaschutz
Schriftliche Anfrage der Abgeordneten Katalin Gennburg (LINKE): „Gorillas“ & Co.: Privatisierung des Stadtraums durch hyperlokale Logistikzentren?